Virtuelle Theater-Architekturen und kokreative Performance-Räume

In welchem Bezug stehen Theater und Immersive Technologien? Welche  räumlichen, technischen und erzählerischen Qualitäten bietet ein Medium wie Virtual Reality? Welche Aspekte sind wichtig?

Die Ursprünge virtueller Welten, bildhafter Räume und raumbezogener Erzählweisen liegen im menschlichen Bedürfnis, Geschichten sinnlich erlebbar zu machen. In dieser Motivation begründet sich auch die enge Beziehung zwischen Virtual Reality und dem Theater: Als Weltenbauer ermöglichen sowohl Theaterschaffende als auch VR-Entwickler:innen ihrem Publikum den Besuch fremder Orte oder Zeitreisen in Zukunft und Vergangenheit – hier trifft der Wirklichkeitssinn auf den Möglichkeitssinn. Beide sind räumlich-immersive Medien und arbeiten mit ähnlichen Methoden wie zum Beispiel dem Aufheben physikalischer Gesetze, dem Spiel mit gesellschaftlichen Konventionen; beide behandeln Fragen nach Partizipation und geben Möglichkeiten des Perspektivwechsels. Theater und Virtual Reality sind offene Spielräume und Labore für Gedankenexperimente.

Der Blickwinkel ist geprägt von unserer künstlerisch-technischen Auseinandersetzung mit Virtual Reality und Theater – in ihrer Rolle als Imaginationsräume, als Orte des gemeinsamen Erlebens, Reflektierens und Lernens, als Möglichkeiten der Kunsterfahrung und der reflexiven Selbstwahrnehmung. In unserem Forschungsprojekt Im/material Theatre Spaces haben wir die Potenziale immersiver Technologien im Zusammenspiel mit dem Theater und seinen räumlichen, technischen und erzählerischen Qualitäten untersucht. In mehreren Blogbeiträgen setzen wir zwei Virtual-Reality-Erlebnisse aus diesem Forschungsprojekt in Bezug zueinander und betrachten sie im Kontext weiterer Projekte aus den Bereichen Museum, Game Design, Film und Theater.

Das VR-Erlebnis Ein Abend im Großen Schauspielhaus – Virtual Reality Zeitreise Berlin 1927 hat den Anspruch, dem Theater als immaterielle Kunstform in seiner Ganzheitlichkeit gerecht zu werden sowie theaterhistorisches Wissen zu vermitteln. Im Mittelpunkt steht hier die Rekonstruktion des nicht mehr existierenden Großen Schauspielhaus Berlin – eine der theaterarchitektonischen Ikonen des 20. Jahrhunderts. Die kulturelle Vermittlung von Theater, seiner Geschichte und seinem Erbe ist per se eine herausfordernde Aufgabe, denn seine Eigenheit als ephemere Kunstform und seine Komplexität als Gesamtkunstwerk lassen sich schwer retrospektiv wiedergeben. Zum immateriellen Kulturerbe Theater gehört eben weit mehr als das, was auf der Bühne dargeboten wird: die Geschichten und die Vielfalt seiner Beteiligten, das Zusammenspiel der künstlerisch-technischen Kräfte und die besondere Theater-Atmosphäre. Dieser Herausforderung begegnen wir mit mithilfe der virtuellen Technologie und narrativer Methoden: In dem VR-Erlebnis laden uns drei Protagonist:innen auf ihre persönliche Erinnerungsreise durch das Große Schauspielhaus ein und vermitteln uns ein vielstimmiges Bild. So ergeben sich Fragen nach unterschiedlichen räumlichen Erzählweisen und ihren Wirkungsweisen: Mit welchen dramaturgischen und szenografischen Mitteln gestalten wir virtuelle Erlebnisräume? Wie kann ein Raum virtuell in Bewegung versetzt werden? Und wie tauchen Besucher:innen in so einen bewegten Raum ein? Denn ein weiterer Aspekt, den wir hier beleuchten wollen, ist die Frage nach der Aktivierung des Publikums: Welche Einflussnahme gestatten wir den User:innen und wieviel Interaktion ist möglich, wieviel nötig? Wie werden aus passiv Zuschauenden aktive Macher:innen?

Im Gegensatz zu Ein Abend im Großen Schauspielhaus kennzeichnet unser zweites VR-Projekt Spatial Encounters eine andere Vorgehensweise: Während im Schauspielhaus die Rezipierenden eine eher konsumierende Haltung einnehmen, entsteht das künstlerische Werk in Spatial Encounters erst durch das kokreative Zusammenwirken und durch die räumlichen Beziehungen von mehreren agierenden Personen. Publikum, Musiker:innen und Medienkünstler:innen erschaffen gemeinsam eine hybrid-reale Raumsituation – live und immer wieder neu. Welche Eigenschaften hat eine hybrid-reale ”Zwischenwelt” als Übergangsraum? Welche Voraussetzungen sind für das Gelingen von Kokreation, Immersion und Kopräsenz im hybrid-realen Raum nötig? Und welche Raumwirkungen können in hybriden Parallelwelten entwickelt werden?

Die in den Blogartikeln vorgestellten Projekte und Themen lassen sich auch aus wechselseitiger Perspektive betrachten: Während im Virtuellen Großen Schauspielhaus durch die individuellen, aber multiperspektivischen Erzählstränge die Komplexität des räumlich-sozialen Theatergefüges erlebbar gemacht wird, entstehen bei Spatial Encounters zwischen den emanzipierten Akteur:innen dialogisch verhandelte, spontane Erzählstränge – ohne programmatische Vorgabe. Hier wird die Qualität des Erlebnisses durch das kommunikative Zusammenspiel der Gruppe bestimmt. Das macht deutlich, wie ein freier Handlungsspielraum erst durch eine dramaturgische Rahmensetzung sein volles kokreatives Potenzial entfalten kann.

Während wir im Großen Schauspielhaus in einen letztendlich statischen Bildraum einer (rekonstruierten) Architektur eintauchen und mit der Geschichte durch das Gebäude bewegt werden, wird der Raum in Spatial Encounters erst durch die Bewegung der Besucher:innen konstruiert und zumindest für den Moment des Erlebens konstituiert. In seiner Flüchtigkeit liegt seine Qualität, die zu einer hohen Identifikation mit dem Projekt führt.

Betrachten wir das Virtuelle Große Schauspielhaus unter dem Aspekt hybrider Realitäten wird deutlich, dass das Eintauchen in den virtuellen Raum im Vordergrund steht. Dabei spielt auch der physische Raum und seine szenografische Gestaltung eine entscheidende Rolle: der vorgesehene Installationsort ist das Foyer des Friedrichstadt-Palast Berlin, in dem eine Ausstellung das Erlebnis für die Besucher:innen kontextualisiert und inhaltlich erweitert. Ausgewählte Exponate finden sich sowohl analog als auch als digitale Zwillinge in der virtuellen Welt wieder. Die räumliche Inszenierung der VR-Station in Form einer abstrahierten Künstlergarderobe stimmt in das Thema ein und bietet zudem einen sicheren Schutzraum. Die Verschränkung des virtuellen Raums mit seiner materiellen Verankerung im Physischen führt dazu, dass die angestrebte Immersion überhaupt gelingen kann und sich die Zuschauer:innen auf das Erlebnis einlassen können.

Dieses hochkomplexe Zusammenspiel zwischen neuartigen Erzählweisen, Methoden der Teilhabe und dem Schaffen von im/materiellen Erlebnisräumen – hier stehen sich VR und Theater in Nichts nach – eröffnet weitreichende Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks. In diesem Spannungsfeld kann Raum – vor allem als Bühnenraum – in seinen physischen und virtuellen Qualitäten erforscht werden.

Autor:innen: Franziska Ritter und Pablo Dornhege