Nimmt man die Gestaltungsmöglichkeiten für eine VR-Produktion in den Blick, hilft es, zunächst die Aufmerksamkeit auf das Zielpublikum zu lenken: Wie verhält es sich, ob allein oder in Gemeinschaft, gegenüber unterschiedlichen Kontexten, Medien und Formaten (etwa Museum, Kino, Bildende Kunst, Theater oder Videospiel)? Welche Einflussnahme gestatten wir den User:innen und wieviel Interaktion ist möglich, wieviel nötig? Wie werden aus passiv Zuschauenden aktive Macher:innen? Im Museums- und Ausstellungskontext sind wir es gewohnt, selbstbestimmt einen Weg zu wählen und ein Themenfeld unserem Interesse folgend zu explorieren. Interaktion mit Medien und Exponaten ist gang und gäbe, Partizipation ist zum vermeintlichen Erfolgsrezept geworden. Zum puren Konsumenten wiederum wird das Publikum im Kino: Interaktion findet (wenn überhaupt) nur zwischen den Zuschauer:innen statt, das Geschehen auf der Leinwand kann in keiner Weise beeinflusst werden. Beim konventionellen Konzert- und Theaterpublikum ist Interaktion in Form von spontanen Beifalls- oder Abneigungsbekundungen möglich, aber auch hier ist eine Einflussnahme auf den Verlauf des Bühnengeschehens nicht üblich. Auf (und jenseits) der Bühne gibt es allerdings seit Längerem experimentelle Spielweisen, die das Publikum in unterschiedlichem Maße involvieren. Die Zuschauer:innen werden „aktiviert“ können – oder müssen sogar – am Geschehen teilnehmen und sind in der Lage, den Verlauf der Handlung zu beeinflussen. So bedient sich die Theatergruppe Rimini Protokoll der Methoden aus dem Game Design, um die „Theater-Nutzer:innen“ mit der Inszenierung interagieren zu lassen (siehe ihre Arbeit Situation Rooms). Manch eine Produktion kommt sogar ganz ohne Schauspieler:innen aus und macht das Publikum zum Hauptdarsteller (100% Stadt). Bei Videospielen ist die Beteiligung und Einflussnahme durch die Gamer unabdingbar: Hier ist die Interaktion zwischen Medium und Publikum integraler Bestandteil des Formats und steht in engem Zusammenhang mit dem Phänomen der (User-)Agency.
In der zeitgenössischen Kunst sind seit den 1960er und 70er Jahren vielfältige Strategien von Publikumspartizipation zu beobachten. Dabei berücksichtigen die Künstler:innen die Öffentlichkeit nicht nur, sondern planen deren Teilhabe von Anfang an ein und machen sie zur künstlerischen Praxis selbst. Die Rezipient:innen gestalten letztlich durch ihre Partizipation das Kunstwerk, die Performance oder das Stück mit. Bei der Konzeption von digitalen Erlebnissen in Virtual Reality gehören all diese Formen von Teilhabe oder Partizipation zum Repertoire. Durch die Vermischung realer Räume mit virtuellen Welten sowie das Aufeinandertreffen menschlicher Akteure mit KI-gesteuerten NPCs entstehen neue, unerschöpfliche Interaktionsmöglichkeiten und Gestaltungsspielräume. (Der NPC – aus dem englischen non-player character – bezeichnet die Figuren in einem Spiel, die nicht durch menschliche Spieler:innen gesteuert werden. Der Begriff umfasst Akteur:innen der Handlung ebenso wie Statist:innen.)
Die bisher beleuchteten Projektbeispiele schöpfen in ihren Vermittlungsszenarien diesen erweiterten Möglichkeitsraum nicht aus: Das Publikum hat kaum Einfluss auf den Fortgang der Geschichten, kann sich allenfalls frei bewegen und Inhalte abrufen. Diese Form der mono-direktionalen Kommunikation – eine klassische Sender-Empfänger-Konstellation – ist in Bezug auf eine Reihe von Aspekten sinnvoll und in bestimmten Aufführungskontexten erstrebenswert. So führen die präzise Kontrolle über den dramaturgischen Ablauf, der gelenkte Betrachterblick und die Rahmung des Sichtfeldes zu einer klaren künstlerischen Setzung und hohen Erlebnisqualität. Der reduzierte Einsatz von Interaktion und Bewegungsfreiheit ermöglicht zum Beispiel das Weglassen externer Eingabegeräte und somit einen wartungsfreundlichen technischen Aufbau. Aus Sicht des Publikums bedeutet dies vor allem eine vereinfachte Bedienbarkeit und leichtere Zugänglichkeit, da keine komplexen Controller-Belegungen gelernt und Interfaces bedient werden müssen. Jedoch steigern Formen der aktiven Beteiligung des Publikums den Grad der Immersion und die Intensität des Erlebnisses, was eine stärkere Identifikation mit den Figuren und ihrer Rolle in der Geschichte zur Folge hat. Die Zuschauer:innen zu aktivieren, bedeutet auch, sie als Zuschauer:innen “abzuschaffen” und sie als Handelnde zu etablieren – sie also von einem rezipierenden Publikum zu agierenden Akteur:innen werden zu lassen.
Eine einfache Form der Einflussnahme von Rezipierenden auf die Handlung eines vorproduzierten Werks hat ihren Ursprung in den Spielbüchern der 1970er und 80er Jahre: die Leser:innen haben am Ende eines Buchkapitels verschiedenen Wahlmöglichkeiten zum Fortgang der Handlung. Je nach getroffener Entscheidung wird die Geschichte an einer anderen Stelle des Buches fortgeführt und so entsteht eine Reihe unterschiedlicher – aber in der Zahl begrenzter und vordefinierter – Handlungsstränge. Diese Form der Einflussnahme findet sich in vielen Videospielen und interaktiven Filmen wieder. Die Sonderfolge Bandersnatch der Serie Black Mirror ist dabei ein hervorzuhebendes Beispiel, weil die Storytelling-Methode hier nicht nur zum Einsatz kommt, sondern selbst als “vorgespielte Entscheidungsfreiheit” zum Thema gemacht wird. Auch am Theater werden die Möglichkeiten dieser Erzählmethode ausgelotet: In der ersten Folge der dreiteiligen Mixed-Reality-Serie Solo setzen der Autor Sebastian Klauke und das Staatstheater Augsburg diesen Spielmechanismus ein und lassen die Zuschauer:innen zu aktiv Ermittelnden in einer VR-Welt werden. Der oder die VR-Zuschauer:in löst einen interaktiven Kriminalfall; den Verlauf der ca. 45-minütigen Handlung steuern die Zuschauer:innen durch Entscheidungen in der Ermittlung und bei den Verhören von Zeugen und Tatverdächtigen.
Mit einer Variation dieser Erzählweise experimentiert das Theaterkollektiv Makropol in der Inszenierung A Taste of Hunger. In diesem VR-Erlebnis – von Regisseur Christoffer Boe als „in Quantenphysik getränkte Erzählung“ bezeichnet – wirken Raum und Zeit verzerrt. Durch das aktive Beobachten wird man zur Gestalter:in eines individualisierten Erlebnisses, denn mit jedem Schritt, den die Betrachter:in macht, verändert sich die Umgebung, die Szene und die Figuren. Der Raum wird hier als Interface benutzt: Durch die Bewegung der aktiven Betrachter:innen werden volumetrische Video-Sequenzen ausgelöst. (Volumetrisches Video ist eine Technik, bei der mehrere Kameras eingesetzt werden, um einen dreidimensionalen Raum oder eine Aufführung zu erfassen) Dieser einfache Interaktionsmechanismus ermöglicht ein komplexes Erlebnis und entfaltet eine starke erzählerische und räumliche Wirkung.
Einen ähnlichen Modus der körperlichen Einflussnahme – erweitert durch eine reagierende künstliche Intelligenz – nutzt die VR-Experience Das Totale Tanz Theater. Das Projekt ist aus Anlass des 100 jährigen Bauhausjubiläums im Jahr 2019 entstanden – unter Federführung der Interactive Media Foundation, choreografiert von Richard Siegal mit Musik der Einstürzenden Neubauten, für die Gestaltung der Szenographie und Kostüme sowie die technische Umsetzung sorgten die Expert:innen von Artifical Rome. Die Dramaturgie wird von der elektronischen Musik des Komponisten Lorenzo Bianchi Hoesch getragen. Inspiriert von den Bühnenexperimenten Oskar Schlemmers und Walter Gropius‘ Ideen zum Totaltheater wird die Frage gestellt: „Wer übt Einfluss aus und wer kontrolliert wen?“ In der interaktiven Inszenierung tauchen die Besucher:innen über VR-Brillen in einen virtuellen Bühnenraum ein und erleben einen durch die eigene Bewegung in Echtzeit beeinflussten Tanz. Der Choreograph Richard Siegal hat für die digitalen Tanzroboter ein Instrumentarium an Bewegungsabläufen entwickelt, die von einer durch ihn trainierten Künstlichen Intelligenz immer wieder neu kombiniert und zusammengesetzt werden. Aus dem Ineinandergreifen von menschengemachter Choreographie, persönlicher Intervention sowie maschinellem Algorithmus ergeben sich immer neue Formen der Bewegung und des Tanzes im Raum. Gemeinsam mit der aktivierten ”Tanzmaschine” gilt es, eine Choreographie zu durchlaufen, begleitet von der Frage nach den wirklichen Einflussmöglichkeiten auf den umgebenden Raum und auf den Algorithmus.
Eine Stufe weiter geht The Under Presents von Tender Claws, das Virtual Reality, Gaming und Theater auf unkonventionelle Weise verbindet. Die Geschichte ist zwischen zwei Welten angesiedelt: eine surrealistische Bar mit einer Varieté-Bühne und ein gekentertes Schiff (dem titelgebenden „Under“). Hier verfolgt man die miteinander verketteten Schicksale der Charaktere, es gibt Erkundungen, Rätsel und erzählerische Elemente. Die mysteriöse Überlebensgeschichte spielt in einer Zeitanomalie – als Spieler:in kann man die Zeit vor- und zurückdrehen und so das Schicksal der Figuren beeinflussen – nichts in diesem Spiel folgt einer vorhersehbaren Handlung. Die Spielemechanik funktioniert sowohl im Einzelspieler- als auch im Mehrspieler-Modus. Das Besondere aber ist, dass (zu bestimmten Zeiten) echte Schauspieler:innen live in die Handlung eingreifen. Die Mitglieder des New Yorker Ensembles „Pie Hole“ entwickelten dafür eigene VR-Showeinlagen, die auf der Varietébühne zur Aufführung kommen. Sie treten aber auch spontan mit den User:innen in Interaktion und verführen sie zu einem bestimmten Verhalten innerhalb der Geschichte. Durch die Verschachtelung von Einzel-, Multi- und Live-Elementen ergibt sich ein individualisiertes Erlebnis mit großer Entscheidungsfreiheit für die Nutzer:innen.
Unter dem Aspekt des gemeinsamen Erlebens und des größtmöglichen Handlungsspielraums lohnt sich ein Blick in Richtung kollaborativer Gestaltungsprogramme. Basierend auf dem Quellcode des von Google entwickelten VR-Malprogramms Tilt Brush ermöglicht das Zeichenprogramm Multibrush das gemeinsame Arbeiten in einem virtuellen Raum. Da die Verbindung über das Internet zustande kommt, können sich mehrere Nutzer:innen mit ihren VR-Brillen einloggen, von verschiedenen Orten aus gleichzeitig teilnehmen und somit gemeinsam ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Innerhalb einer geteilten virtuellen Umgebung werden dreidimensionale Grafiken und Skulpturen in den Raum gezeichnet. Da es durch das Programm keine Aufgaben und Vorgaben gibt, sind die Ergebnisse offen und werden unter den Akteur:innen gemeinsam demokratisch (und teils chaotisch) miteinander verhandelt. Es ereignet sich ein kokreativer Prozess ohne äußere Vorgaben oder Strukturen, der aus der Gemeinschaft ein “künstlerisches” Werk entstehen lässt.
Aus der Betrachtung dieser Projektbeispiele ergeben sich Fragen nach der Gestaltungshoheit und Autorenschaft von künstlerischen Prozessen, nach Potenzialen und Grenzen von kokreativen Arbeitsweisen. Wie kann dieses Potenzial des aktivierten Publikums und des kokreativen Wirkens genutzt werden, um ein künstlerisches Erlebnis zu schaffen?
Mehr dazu in unserem Blogartikel über Kokreative Begegnungen in hybrid-realen Bühnenräumen.
Autor:innen: Franziska Ritter und Pablo Dornhege
Weiterführende Literatur:
Siegmund, Gerald Das Problem der Partizipation: https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tan/20708712.html, 2016
Simón Lobos Hinojosa & Charlotte Rosengarth: https://www.uni-hildesheim.de/kulturpraxis/partizipative-kuenste-im-rahmen-kultureller-bildung