Kokreative Begegnungen in hybrid-realen Bühnenräumen

Wenn das Publikum durch den Einsatz partizipativer Strategien in eine künstlerische Performance eingebunden wird, findet die suggerierte Kooperation auf Augenhöhe oft bloß oberflächlich statt. Die Teilhabenden bekommen nur eingeschränkte Handlungsmacht und sind meist ohne Autorenschaft am vermeintlich kollektiven Schaffensprozess beteiligt. Als Erweiterung partizipativer Verfahren spielen kokreative Prozesse – nicht nur im künstlerischen Bereich – zunehmend eine wichtige Rolle. Sie haben zum Ziel Werke zu schaffen, in denen alle Akteur:innen direkt in den kreativen Prozess eingebunden sind und gleichzeitig als Rezipienten, Mitautor:innen und Herausgeber:innen der Arbeit agieren. Kokreation beschreibt also die Methode und das Ergebnis eines gemeinsamen gestalterischen Prozesses durch heterogene Personen- oder Statusgruppen. Diese Art von Kunstprozessen verteilt die Autorenschaft auf Künstler:innen und Publikum, führt zu einer Art Enthierarchisierung und erweitert die Rezipientenrolle im “Künstler-Kunstwerk-Betrachter-Komplex”.

In unserem Forschungsprojekt Im/material Theatre Spaces untersuchen wir Kokreation in der Auseinandersetzung mit immersiven Technologien und im Kontext hybrid-realer Räume. Dabei ist das Kokreative sowohl Untersuchungsgegenstand, Arbeitsweise und Ziel zugleich. In der Zusammenarbeit mit Studierenden verschiedener Hochschulen – z.B. im Projekt Zwischenwelten mit der HTW Berlin am Studiengang Kommunikationsdesign und an der TU Berlin am Studiengang Bühnenbild_Szenischer Raum – und mit Künstler:innen und Musiker:innen haben wir in prototypischen Experimentalanordungen unterschiedliche Ansätze für den Einsatz von VR in kokreativen Szenarien entwickelt und erprobt. Dabei stand – neben dem Ausloten der technischen Grenzen und Möglichkeiten – vor allem die Frage im Zentrum, wie die kollektive Kreativität und die neu gewonnenen Freiräume und Handlungsspielräume genutzt werden können, um ein gemeinsames Werk mit künstlerischer Aussagekraft hervorzubringen.

Der hybrid-reale Begegnungsraum Spatial Encounters bei der Uraufführung 2021 auf dem Kammermusikfestival im Kloster Volkenroda © digital.DTHG / Sascha Sigl

Die in den Experimenten erlangten Erkenntnisse haben wir in dem VR-Projekt Spatial Encounters umgesetzt: Dieser hybrid-reale Begegnungsraum erforscht Dialogprozesse zwischen Musik, Mensch und Raum an der Schnittstelle von analogen und digitalen Welten. Anlass für dieses Projekt ist unsere Suche nach bidirektionalen Dialogformen zwischen akustischen und visuellen Räumen. In diesem transformativen Übergangsbereich wollen wir die Aufmerksamkeit der Beteiligten zum einen auf den Moment des “Musik machens”, zum anderen auf das gemeinsame Kreieren lenken. Damit verbunden ist eine Einladung zum “Anders hören”. Eine oder mehrere Musiker:innen, ein Visual Jockey als “Master of Virtual Scenography” und bis zu neun Besucher:innen begegnen sich dabei in einem gleichberechtigten Dialog (in der Uraufführung 2021 spielten der Geiger David Wedel, Konzertmeister des Gewandhausorchesters Leipzig, und Lea Schorling aus dem digital.DTHG Team als VJ.). Unser ursprüngliches Ziel, die Auflösung von klassischen Konzertkonventionen und frontalen Sender-Empfänger-Situationen, haben wir in diesem Setting räumlich einlösen können: Auf einer Freifläche von circa 150 Quadratmetern taucht das Publikum mit mobilen VR-Brillen in eine virtuelle Szenerie ein, die in den darauffolgenden 20 Minuten gemeinsam bespielt, gestaltet und erlebt wird. Seitens des Publikums sind keine Vorkenntnisse nötig, das Setting kann überall aufgebaut werden, wo genügend Platz zur Verfügung steht. Mehrere Sessions in Folge sind möglich. Das Erlebnis läuft als browserbasierte WebXR-Anwendung auf kabellosen Meta Quest 2 VR-Brillen.

In diesen digitalen Landschaften bewegen sie sich frei und generieren durch ihre Begegnungen und räumlichen Beziehungen visuelle Effekte und Skulpturen. Die so entstehenden immateriellen Raumkörper und virtuellen Szenerien werden live musikalisch interpretiert. Gleichzeitig geben die Musiker:innen ihrerseits stimulierende Impulse und Stimmungen in das performative Zusammenspiel. Durch diese vielfältigen Wechselwirkungen wird das gemeinsame Erlebnis im virtuellen Raum zum Katalysator für einen kokreativen Schöpfungsprozess – es entsteht ein ephemeres Kollektivkunstwerk und ein musikalisch-visueller Resonanzraum. Kokreative Prozesse sind gekennzeichnet durch größtmöglichen Handlungsspielraum für Spontanität und Unvorhergesehenes. Um dieses Potenzial entfalten zu können, braucht es eine hohe Flexibilität und Offenheit aller Beteiligten und klar ausformulierte Rahmenbedingungen, Spielregeln und Grenzen. Für Spatial Encounters haben wir daher ein vordefiniertes Framework konzipiert, das einerseits aus einem das Visuelle bestimmenden, codebasierten Regelwerk besteht und andererseits aus einer die Prozesse moderierenden, dramaturgischen Struktur.

Die dramaturgische Struktur von Spatial Encounters entspricht dabei einer bewährten Abfolge: Die eigentliche Performance liegt eingebettet zwischen einer anfänglichen Begrüßungsszene mit technischem Onboarding, freier Explorationsphase und einem abschließendem Offboarding. Innerhalb der Konzert-Performance entstehen im kollaborativen Zusammenspiel der Akteur:innen unterschiedliche spontane Erzähldramaturgien mit circa fünf bis sechs Szenen. Die Ausgestaltung wird allein durch die Akteur:innen – Publikum, Musiker:innen und VJ – bestimmt, jede Performance ist daher einmalig und entwickelt ihre ganz eigene Atmosphäre.

Szenografisch-visuell arbeiten wir in zwei Realitäten: Einerseits sind das vorproduzierte virtuelle Szenerien und Landschaften aus einfachen Grundelementen (Boden, Horizont und Himmel) in unterschiedlicher Dimension, Farbigkeit und Texturierung. Für unsere Uraufführung haben wir daraus eine Reihe monochromatischer Farbräume, futuristisch-technoider Cyberspaces und naturalistischer Landschaften (zum Beispiel sanfte thüringische Rapsfelder und flirrend-heiße Wüstenflächen) zusammengestellt. Aus der Kombinierbarkeit von Szenen und Komponenten ergeben sich formal abstrakte, aber atmosphärisch konkrete Stimmungen, die Deutungs- und Interpretationsspielraum lassen . Andererseits fokussiert die Inszenierung des physischen Raums – als Spielfläche – die Aufmerksamkeit des Publikums und formuliert gleichzeitig einen Schutzraum: Je mehr räumliche “Geborgenheit” für die performende Gruppe hergestellt werden kann, desto besser können sich die Beteiligten auf das Gemeinsame einlassen. Der Einsatz räumlicher Gestaltungsmittel wie eine inszenatorische Lichtsetzung, Nebel, Bodenoberflächen (Teppich, Tanzboden etc.) und die visuelle Eingrenzung der Spielfläche bestimmen den Aufführungsort und somit das künstlerische Ereignis.

Der hybrid-reale Bühnenraum von Spatial Encounters definiert sich durch die Synchronizität subtiler Ankerpunkte, wiedererkennbarer Raumkanten und Flächen, die in beiden Welten gleichermaßen auftauchen. Beide Räume – der physische und der parallel existierende virtuelle – beeinflussen sich in ihrer Verschränkung gegenseitig. Durch die kongruente Überlagerung entsteht ein dritter Raum: eine hybrid-reale Zwischenwelt als Übergangsraum. Dieser dritte Raum zeichnet sich durch besondere Qualitäten aus und setzt die Betrachter:innen neuen Wahrnehmungsphänomenen aus. (Blumenkranz 2010). Dabei ist er deutlich vielschichtiger, komplexer und von mehr Variablen bestimmt als der physische oder virtuelle Bühnenraum. Ein solch hybrid-realer Überbrückungsraum ermöglicht die Kommunikation zwischen dem Realen und dem Virtuellen. Er fungiert als medialer Raum im ursprünglichen Wortsinn: als Mediator, als Vermittler. „Die Verbindung des Realen und Virtuellen macht die Substanz des hybriden Raums aus. Dieser Raum […] kann aber nicht autonom existieren, da kein eigenständiger Zusatzraum erzeugt wird.“ (Blumenkranz 2010) In seiner flüchtigen Präsenz ist er unabdingbar mit der Koexistenz beider Realitäten verbunden. Die Natur dieser Zwischenwelt bestimmt sich aus dem Dominanzverhältnis von realem und virtuellem Raum und der Synchronität in Bezug auf Zeit und Ort: Stehen sich beide Realitäten gleichberechtigt gegenüber oder haben sie unterschiedliche Gewichtung? Befinden sich alle Akteur:innen zur gleichen Zeit im Zwischenraum und wirken ihre Aktionen echtzeitlich oder zeitversetzt? Sind sie in ihrer räumlichen Position und Maßstäblichkeit deckungsgleich, divergierend oder gegensätzlich? Die Variabilität dieser Eigenschaften und die daraus entstehende Komplexität macht den besonderen Reiz immaterieller Zwischenräume aus.

Die Wahrnehmung des Zwischenraums ist bestimmt durch den temporären Zustand der Trennung von körperlicher Existenz im physischen Raum und geistiger Existenz in der virtuellen Umwelt. Durch diese Konvertierung der gewohnten Geist-Körper- zu einer neuen Geist-Avatar-Beziehung wird das Spannungsverhältnis zwischen materiellem und immateriellem Raum am eigenen Leib erfahrbar. Der durch den dritten Raum vermittelte Dialog zwischen den Realitäten tritt erst durch die (Inter-)aktionen der Akteur:innen in Erscheinung, der Raumdialog speist sich aus dem Zusammenspiel der Real-Körper mit ihren digitalen Avataren: Um tatsächlich in der virtuellen Welt handlungsfähig zu sein, brauchen die Akteur:innen eine stellvertretende Entität, die ihre physischen Eigenschaften ins Virtuelle transformiert. Der digitale Körper ist das Interface, das es zu gestalten gilt: der avatarisierte Körper bestimmt unsere Beziehung zur virtuellen Umwelt (Fetzer 2020).

Akteur:innen, Avatare und raumbildende Skulpturen in Spatial Encounters © Astis Krause, digital.DTHG / Pablo Dornhege

In Spatial Encounters werden die virtuellen Avatare als kegelförmige Stapelung von schwebenden Ringen verkörpert, deren abstrakte Formen an Oskar Schlemmers Kostümentwürfe zum Triadischen Ballett erinnern. Die farbigen Ringe definieren dabei nicht nur das visuelle Erscheinungsbild, sondern beschreiben gleichzeitig auch einen Schutzbereich um die Körper der Nutzer:innen. Die kinetische Physis des Ring-Avatars hat eine leichte Verzögerung der Bewegung (wie ein wogendes Ballkleid) und animiert den oder die User:in zur spielerischen Erforschung der eigenen Handlungsfähigkeit: ein Wiegen des Körpers an Ort und Stelle, das Durchtanzen der Spielfläche, Luftsprünge, Hinhocken, Hinlegen bis hin zur Verschmelzung mit anderen Avataren. Diese körperlichen Aktionen lösen zusätzlich visuelle Effekte aus wie zum Beispiel Farbveränderungen, Perspektivwechsel oder Lichtexplosionen. Eine Performance-Teilnehmerin beschreibt ihr VR-Erlebnis so: „Ich war neugierig, den anderen Farbkegeln nahe zu kommen, sie zu berühren, mich mit ihnen im Tanz zu wiegen. Immer wieder waren wir durch Bänder in einer Dreiecksbeziehung miteinander verbunden. Rhythmisch aufsteigende Linien wurden zu Skulpturen, wie moderne Hochhausarchitekturen, die wir dann immer wieder in ihrer Form verändern konnten. In diese fliegenden Skulpturen sind wir dann hineingestiegen oder haben ihnen beim Davonfliegen hinterhergeschaut.“ Die so evozierten dynamischen Bewegungsmuster der Nutzer:innen werden in der Gruppe zu einem gemeinsamen Tanz und es entstehen spontane Choreographien. Unbewusst wird das gemeinsame Erkunden von Nähe und Distanz zum bestimmenden Thema der Performances. Durch das mit diesen einfachen Mitteln geschaffene Gefühl der Selbstverortung, des Körperbesitzes und der Handlungsfähigkeit (Kilteni, Groten, Slater 2012) entwickelt sich bei den Nutzer:innen ein „Sense of Embodiment“. Dies ist Voraussetzung für das Gelingen von Immersion und Kopräsenz im hybrid-realen Raum.

Nicht das dramaturgische Framework oder die vordefinierten inszenierten Räume bilden die künstlerische Arbeit. Vielmehr entfaltet sich das Werk durch das Zusammenspiel der tanzenden Akteur:innen und ihren immateriellen Bewegungs-Skulpturen, den virtuellen Umwelten und der improvisierten Live-Musik. So wird die Performance zu einem intersubjektiven Erlebnis zwischen den Teilnehmenden, das die Beziehungen untereinander ins Zentrum des Kunstereignisses stellt. Als Ergebnis entsteht ein multimodales – ephemeres – Kollektivkunstwerk.

Autor:innen: Franziska Ritter und Pablo Dornhege

Literaturverzeichnis:

Blumenkranz, Anna. Reale und virtuelle Räume. Interaktivität in raumbezogener Kunst, S.32 und S.75. Bachelorarbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2010.

Fetzer, Frank. Mixed Reality Is Already There! The Player’s Body as Foundation of the Videogame Experience in Mixed Reality and Games, 2020, S.252f

Konstantina Kilteni, Raphaela Groten, Mel Slater: The Sense of Embodiment in Virtual Reality in Presence. by the Massachusetts Institute of Technology, Vol. 21 No. 4, 2012, S. 373–387