Zum Abschluss des Forschungsprojekts geben die beiden Projektleiter:innen Franziska Ritter und Pablo Dornhege einen Blick hinter die Kulissen ihrer zweijährigen Arbeit, ziehen ein Resumé und schauen ein Stück weit in die Zukunft. Sie stellen sich damit selbst den Fragen, die sie im laufenden Projekt ihren Partnern gestellt haben
Im Forschungsprojekt „Im/material Theatre Spaces” hat das digital.DTHG-Team gezeigt, welche Potenziale durch den Einsatz immersiver Technologien an der Schnittstelle von analogen und digitalen Theaterwelten entfaltet werden können: Ob als Werkzeug für kreative Prozesse, als Wissensraum oder als Ort und Medium neuer theatraler Spielformen – die Anwendungsfelder sind enorm vielfältig. .
Ihr habt in den vergangenen zwei Jahren 17 Prototypen in neun Teilprojekten entwickelt, das klingt sportlich! Wie seid ihr vorgegangen?
Als Erstes galt es im Herbst 2019, in Windeseile ein Team zu finden und aufzubauen und in einer Reihe von Kick-Off Workshops die richtigen Kooperationspartner zu finden und die Inhalte zu konkretisieren. Und genau da lag die Stärke in unserem Projekt: die Themenfelder waren im Förderantrag offen skizziert und gleichzeitig konkret genug abgesteckt, sodass wir genügend Spielräume hatten, um mit unseren Partnern relevante Fragestellungen zu entwickeln und dringende Herausforderungen angehen zu können. Im Laufe des Projektes haben wir immer wieder die Zielvorstellungen den aktuellen Gegebenheiten angepasst und unsere Herangehensweise entsprechend nachjustiert. Das klingt vielleicht erst einmal unbeständig, aber hat uns resilient durch die pandemischen Wirrungen geführt. Und vor allem so flexibel gemacht, dass wir das Projekt an die rasant fortschreitenden technologischen Entwicklungen anpassen konnten. Dabei haben wir geschaut, wie wir unsere Ressourcen und Energien bündeln und Synergien zwischen den Teilprojekten schaffen können.
Könnt ihr uns einen Einblick in euren Arbeitsalltag und in eure Vorgehensweise geben?
Ähnlich wie bei der Entwicklung eines Theaterstücks hat es einen stetigen „nine-to-five-Arbeitstag” fast nie gegeben. Dafür waren die Rahmenbedingungen zu dynamisch. Das Gute war, dass wir mit unserem interdisziplinären sechsköpfigen Team genau darauf reagieren konnten. Wir haben die unterschiedlichen Arbeitsweisen der verschiedenen Disziplinen miteinander kombiniert und daraus neue Workflows entwickelt und immer wieder auch den neuen Gegebenheiten anpassen können. So verbindet sich die Stärke künstlerischer Improvisationslust mit wissenschaftlicher Präzision. Das heißt, das, was wir aus agiler Softwareentwicklung lernen können – die „strukturierte Flexibilität” – haben wir mit einer Prise Theaterzauber, großer Neugier und immerwährender Experimentierfreudigkeit kombiniert. So war unser Projektbüro in Berlin viel weniger ein klassisches Büro, sondern vielmehr Labor und Ideen-Inkubator.
Forschungsprojekte tendieren gern dazu, an der Realität vorbei zu gehen. Euer Projekt hatte von Anfang an den Anspruch, nutzbare und übertragbare Ergebnisse zu generieren. Wie seid ihr vorgegangen?
Neben den schon erwähnten Kick-Off-Workshops zur Definition der konkreten Teilprojekte haben wir mit dem digital.DTHG-Team eine Reihe an Exkursionen in die verschiedenen Arbeitswelten unternommen, also zum Beispiel in Bühnenwerkstätten, in Theatersammlungen, in Ausbildungsstätten von Veranstaltungstechniker:innen – oder im Premierenfieber mitten rein ins Publikum. Denn Praxisnähe ist ein wichtiger Punkt in unserem Projekt: zum Beispiel bei den Try-Out-Sessions, die wir mit den Beteiligten der kooperierenden Theater vor Ort realisiert haben, oft auch schon ganz früh während des Entwicklungsprozesses. Hier und in den Diskussionen mit externen Fachberater:innen entstand ein wichtiger Lern- und Wissensraum für alle Beteiligten: im ständigen Dialog zwischen Labor und Praxis. Es ging darum, den Fokus auch auf die Entwicklungsprozesse zu legen und nicht nur auf das Ergebnis. Also auch einen Raum zu öffnen, in dem Fehler erlaubt und sogar erwünscht sind.
Um schnell zu überprüfbaren Ergebnissen zu kommen, haben wir Arbeitsweisen aus der Coding-Praxis übernommen: Wir haben im Kreativ-Plenum gemeinsam Ideen konzipiert, um danach in einen intensiven Design- und Coding-Tunnel abzutauchen. Die Ergebnisse haben wir mit unseren Kooperationspartnern ausgewertet, um die Erkenntnisse in das nächste Kreativ-Plenum zu übernehmen – und hier schließt sich der Kreis des Design-Sprints, als Teil eines iterativen Entwicklungsprozesses.
Könnt ihr benennen, welche digitalen Tools ihr in eurer interdisziplinären Zusammenarbeit benutzt habt?
Unsere Arbeitsweise war gekennzeichnet durch flache Hierarchien und dynamisch-flexible Arbeitsmethoden. Das wurde schon direkt bei Projektbeginn durch die Nutzung kollaborativer Software unterstützt. An dieser Stelle geht ein großer Dank an Hubert Eckart, der ein großer Verfechter solcher Arbeitsweisen ist und uns beim Aufbau dieser Strukturen geholfen hat. So haben wir von Anfang an den Messenger-Dienst Slack für die interne Teamkommunikation genutzt, für die kreativen Sessions und die Ideenfindungen kam das Whiteboard-Tool Miro zum Einsatz (auch mit Kooperationspartnern), die Aufgabenverwaltung haben wir mit der Software Notion bewältigt, für die Daten- und Dokumentenspeicherung gab es eine Synology-Netzwerkfestplatte in der eigenen Cloud und Zoom für die mittlerweile unverzichtbaren Videokonferenzen. Neben diesen – mittlerweile schon weit verbreiteten – Anwendungen treffen wir uns auch in virtuellen Mozilla-Hubs-Räumen und nutzen zum Beispiel Sketchbox-VR für virtuelle räumliche Besprechungen. Diese Vielfalt an digitalen Werkzeugen und Arbeitsumgebungen erfordert von allen jederzeit Bereitschaft und Offenheit für Neues. Auf dieser eingespielten Grundlage konnte das Team dann auch gleich zu Beginn der Corona-Pandemie eine dezentrale Arbeitsweise etablieren, die bis heute orts- und zeitunabhängig für einen hohen Output sorgt.
Was waren für euch und euer Team die größten Herausforderungen im Projekt? Und wie seid ihr damit umgegangen?
Besonders herausfordernd – aber gleichzeitig erfrischend – war, dass alle Teammitglieder in 50%-Teilzeit an diesem Forschungsprojekt gearbeitet haben. Jeder hatte noch andere Projekte auf dem Tisch,
war in der Hochschullehre tätig oder hat künstlerische Projekte verwirklicht. Das war in der Koordination manchmal schwer unter einen Hut zu bekommen, aber dafür gab es jeden Montagmorgen ein Feuerwerk an neuen Impulsen.
Drei Viertel der gesamten Projektlaufzeit haben wir unter pandemischen Bedingungen absolviert. Das war kein leichtes Unterfangen, denn gerade zu Beginn der Pandemie sollten unsere ersten Kooperationen starten und Vor-Ort-Workshops stattfinden. Einige Kooperationspartner konnten sich daher aus nachvollziehbaren Gründen nicht wie geplant einbringen, mit anderen haben wir umso intensiver gearbeitet.
Auch auf technischer Ebene gab es Herausforderungen: Wie zu erwarten, hat die rasant fortschreitende Entwicklung der untersuchten AR- und VR-Technologien Einfluss auf den Projektverlauf genommen – die technischen Möglichkeiten von Hard- und Softwarelösungen verändern sich stetig. Zum Beispiel ermöglichte die Veröffentlichung der WebXR-Konvention im Sommer 2020 hardwareunabhängige und dadurch inklusivere Zugänge zu AR- und VR-Inhalten. Daher haben wir uns erlaubt, die Zielvorgaben der Teilprojekte konstant mit der aktuellen Situation und der technischen Umsetzbarkeit abzugleichen und anzupassen.
Apropos aktuelle Situation – welche Theaterrealität ist euch denn begegnet? Welche Rolle spielt Digitalität? Wo steht die Theaterlandschaft in der Auseinandersetzung damit?
Das ist gar nicht so eindeutig zu beantworten, denn es fehlt bislang eine flächendeckende Studie zum Status Quo in Sachen Digitalität in der deutschen Theaterlandschaft. Wir haben es daher oft mit gefühlten Wahrheiten zu tun. Durch die Pandemie wurde aber mehr als deutlich, wie akut das Thema der Digitalität und digitalen Transformation im Kulturbereich ist und wieviel Arbeit da noch vor uns liegt. Und damit sind nicht nur die Theater selbst gemeint, sondern auch die Theaterindustrie, die freie Szene, aber auch die Ausbildungsstätten. In unserer täglichen Arbeit waren wir teilweise erschrocken über den technischen und personellen „Zustand” vieler Theater und Veranstaltungsorte: unzureichende Internetzugänge, fehlende Computerarbeitsplätze, wenig Vorkenntnisse im Einsatz digitaler Werkzeuge und Arbeitsmethoden. Dazu kommt, das aus starken Hierarchien und streng abgegrenzten Kompetenzbereichen sehr aufwendige Arbeitsprozesse und zeitintensive Abstimmungen resultieren. Und das kann auch zu einer Ablehnung neuer digitaler Tools führen. „Never change a running system” ist kein guter Leitsatz für Innovation.
Aber gleichzeitig stießen wir auch auf große Neugier und Wissensdurst. Viele engagierte Theatermenschen erkannten das Potenzial und gaben die Impulse und das neue Wissen um immersive Technologien begeistert an ihre Kolleg:innen weiter. Einerseits ist (digitale) Transformation natürlich „Chefsache” oder „Chefinsache”, aber auch Revolution „von unten” ist möglich und vor allem für eine nachhaltige Veränderung notwendig – so zumindest in unserer Erfahrung. Wir appellieren also an die Verantwortung jedes Einzelnen, Modernisierung und Digitalisierung voranzutreiben und Zukunftsfähigkeit einzufordern. Wir haben in unseren Kooperationen erlebt, wie fruchtbar es sein kann, wenn Theaterleitungen ihren Mitarbeiter:innen den Freiraum geben, Möglichkeiten zu erkunden und Dinge auszuprobieren. Ganz nach dem Motto „Umwege erhöhen die Ortskenntnis”. Genau dafür ist unser Forschungsprojekt „Im/material Theatre Spaces” extrem wertvoll. Vor allem auch, um die Schere zu schließen zwischen denen, die gerade erst anfangen, ihre Fühler auszustrecken oder den Digitalpionieren, die sich täglich im virtuellen Theaterraum tummeln oder sogar schon eine eigene Digitalsparte am Haus aufgebaut haben.
Warum ist es so wichtig, dass Theatermenschen in der digitalen Welt mitmischen? Und welche Empfehlung würdet ihr denjenigen geben, die sich auf diesen Weg begeben möchten?
Theater sind seit jeher Labore: für Experimente, für die Schaffung von Immateriellem; es sind Orte an denen Unmögliches möglich wird. Theaterschaffende aus allen Bereichen sollen sich unbedingt mit ihren spezifischen kreativen, dramaturgischen und technischen Fähigkeiten einbringen und eigene oder gemeinsame künstlerische Experimente wagen. Für die ersten Versuche braucht es nur etwas Mut. Und bei Fragen die richtige Hilfe und für Projekte die richtigen Komplizen: Wir haben mit der Gründung des Kompetenzbereiches digital.DTHG, dem im Projekt generierten Wissen und den neu geknüpften Verbindungen einen Beitrag geleistet, der hoffentlich noch eine Weile nachwirkt. Bei der DTHG gibt es eine Bildungsbühne mit Weiterbildungsangeboten, in anderen Verbänden existieren Arbeitsgruppen, auf unserer digital.dthg.de Website gibt es ein WIKI. Gemeinsam mit Nachtkritik und der Akademie für Theater und Digitalität haben wir die Plattform nachtkritik.plus gestartet, als Raum für Wissensaustausch und Diskurs. Dort finden Interessierte vielfältige Anregungen und Unterstützung für eigene Experimente.
Was bräuchte es für das (digitale) Theater der Zukunft? Was müsste sich eurer Meinung nach verändern?
Das Theater hat sich auf den Weg gemacht und durch die Pandemie ganz klar einen „Booster” erfahren – wichtig ist nun, dass wir diese Neugier und den Ausprobiermodus weiter behalten und nicht in alte Fahrwasser zurückfallen. Dieses spielerische und gestaltende Moment ist eine der ureigenen Qualitäten von Theater. Dazu bedarf es natürlich auf politischer Ebene ein Verständnis für die frühzeitige Schaffung der notwendigen Rahmenbedingungen und Offenheit und Geduld an den Häusern. Das gilt auch für die Anwender:innen und das Publikum, in diesem Neuland funktionieren Dinge eben nicht immer beim ersten Mal.
Für die Entwicklung digitaler Möglichkeitsräume muss der Zugang zu Technologie für Alle, aber vor allem für die freie Szene erleichtert werden. Das kann durch offene Rapid-Prototyping-Werkstätten oder die gemeinsame Nutzung von VR-Equipment wie Laptops, Software durch lokale Theater und regionale Technologie-Hubs gelöst werden.
Um die technologische Entwicklung der Theaterlandschaft voranzutreiben, sollten die Verbände, die Theater, die Industrie und die Hochschulen verstärkt kooperieren und gemeinsame Strategien statt geschlossener Insellösungen entwickeln. Hier kann man von den Communities und Netzwerken im Game Design und der XR-Entwicklung lernen: Die Akteur:innen helfen sich gegenseitig und teilen ihr Wissen in überraschend offener Weise. Genauso sollten sich auch die Theaterschaffenden über ihre Digitalexperimente, über ihre Fehlschläge, Erkenntnisse und Erfolge austauschen.