Bericht: Im/material Spaces – VR und AR eröffnen neue Zugänge zu Kulturerbe

Vorträge von Franziska Ritter, Pablo Dornhege (digital.DTHG) und Maren Demant (Invisible Room), zusammengefasst von Kai Schnier, https://kultur-b-digital.de/

Augmented Reality, Virtual Reality, Mixed Reality: nicht nur in der Tech-Branche, sondern auch im Kulturbereich sind dies seit geraumer Zeit die neuen Trendbegriffe. Überall wo Technik eingesetzt werden kann, um die Besucher*innenerfahrung zu verbessern oder einfach aufregender zu gestalten – zum Beispiel durch VR-Brillen im Museum – wollen Kulturinstitutionen vorne mit dabei sein. Hierbei ist das Verständnis dafür, was Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality unterscheidet oft noch gar nicht gewachsen. Was unterscheidet also eigentlich VR und AR? Was kann die Technik für Kulturinstitutionen bisher überhaupt realistisch leisten? Und was kann sie bisher noch nicht?

Um diese Fragen – und die passenden Antworten – ging es auf der Veranstaltung „Im/material Spaces – Virtual and Augmented Reality eröffnen neue Zugänge zu Kulturerbe“, die am 26. November 2019 auf Einladung von und in den Räumen der Technologiestiftung Berlin mit den Referent*innen Franziska Ritter und Pablo Dornhege (beide forschen und unterrichten an mehreren Hochschulen und leiten gemeinsam das Forschungsprojekt Im/material Theatre Spaces) und Maren Demant (XR Designerin und Gründerin von Invisible Room) stattfand.

In seinem Vortrag zu den Grundlagen der Virtual und Augmented Reality erläuterte Pablo Dornhege mithilfe eines Begriffglossars das Wesen von Virtual und Augmented Reality und zeigte mögliche Wege für einen mediengerechten Umgang mit den Technologien auf. Der folgende Leitfaden fasst die wichtigsten Grundlagen aller Referent*innen-Beiträge zusammen:

AR + VR in Kulturinstitutionen – ein Leitfaden

Die Geschichte immersiver Technologien

Immersive Technologien sind nicht erst in den vergangenen Jahren entstanden, sondern gehören schon seit Jahrhunderten zum Repertoire von Kunst, Kultur und Wissenschaft. Dabei täuschte schon das frühe Barocktheater durch seine tiefenperspektivische Bühnengestaltung eine erweiterte räumliche Realität vor, die einzig und allein im Kopf der Betrachter*innen entstand. Ähnliche Beispiele finden sich in der Geschichte der Menschheit immer wieder: So versuchten Künstler*innen der Romantik mit riesigen Panorama-Gemälden etwa, den Betrachter*innen einen 360-Grad-Eindruck bestimmter Szenen zu bieten.

In der Wende zum 20. Jahrhundert ermöglichte das Kaiserpanorama bis zu 25 Personen gleichzeitig mit automatisch wechselnden stereoskopischen Bildserien ein “virtuelles Reisen” an ferne Orte.

1954 entwickelte der Produzent und Kameramann Morton Heilig das Sensorama, das die erste vollimmersiven Kinoerfahrungen bieten sollte. Dazu experimentierte Heilig mit einem Gerät, das nicht nur bewegte Bilder zeigen, sondern auch zu den Szenen passende Gerüche ausschütten sollte.

Weiter fortgeschritten war 1968 das von dem Computertechniker Ivan Sutherland entwickelte „Sword of Damocles“, das gemeinhin als das erste Head-Mounted Display (HMD) gilt. Dieses vermochte es bereits, digitale Bilder in das Sichtfeld des Betrachters einzublenden und somit eine Mischform des digitalen und des analogen Raums zu schaffen. Mitte der 1970er-Jahre experimentierten Computerkünstler*innen wie Myron Krueger dann bereits mit dem Begriff „Artificial Reality“ oder „künstliche Realität“. Kruegers Artificial-Reality-Versuchslabor namens „Videoplace“ an der University of Connecticut erlaubte es, durch Bewegung des eigenen Körpers mit einer computergenerierten künstlichen Realität zu interagieren.

Moderne Vorläufer der heutigen VR-Brillen entstanden derweil Mitte der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre in den Entwicklungslaboren der NASA, die diese nutzten, um Astronaut*innen auf den Einsatz im All vorzubereiten. Erste im Handel erhältliche VR-Systeme, beziehungsweise Virtual-Reality-Helme, waren 1994 zum Beispiel der Forte VFX1 Headgear. Die massentauglichen 3D-Grafikkarten, die kurz darauf auf den Markt kamen, beschleunigten diese Entwicklung noch weiter.

Der Grundstein für den aktuellen Hype um immersive Technologien und insbesondere VR wurde dann allerdings durch das iPhone gelegt: Mit dem hochauflösenden Display moderner Smartphones sowie den verbauten Neigungs- und Beschleunigungssensoren war das Fundament für einen Quantensprung in Bezug auf neue Virtual-Reality-Systeme, wie beispielsweise die Oculus Rift, endgültig geschaffen.

Seit Virtual Reality ein Begriff ist und immersive Technologien auch von Otto-Normalverbraucher*innen im Handel erworben werden können, herrscht um die genauen Begriffsbezeichnungen rund um die künstliche Realität ein reines Chaos. Dabei sollte grundsätzlich erwähnt werden, dass die bekanntesten Begriffe – Virtual Reality, Mixed Reality und Augmented Reality – allesamt dazu dienen, bestimmte Abstufungen der Virtualisierung von Realität zu beschreiben:

Virtual Reality (VR) steht an einem Ende des Spektrums: Sie beschreibt die voll-immersive Simulation des physischen Raums, also das komplette Eintauchen in eine virtuelle Umgebung, die als real empfunden wird. In ihrer vollkommensten Form lässt sich die VR für Betrachter*innen also nicht mehr von der physischen Manifestation der Realität unterscheiden. Beispielhaft für VR sind interaktive Erlebniswelten, in welche die Nutzer*innen mit Virtual-Reality-Brillen eintauchen können.

Anders als bei der VR wird die physische Realität derweil bei der Augmented Reality (AR) “nur” mit digitalen Inhalten überlagert. Sie ist somit also näher am Realitätsende des Spektrums angesiedelt. Ein Anwendungsbeispiel für AR sind Applikationen im musealen Raum, bei denen Besucher*innen per iPad ein Gemälde an der Wand filmen können, über das auf dem Gerätescreen gleichzeitig mehrere neue digitale Ebenen gelegt werden, wie etwa frühere Skizzen des Werkes.

Bei der sogenannten augmentierten Virtualität wird derweil nicht die reale Welt durch digitale Layer angereichert, sondern die digitale Welt durch den physischen Raum augmentiert. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Wahrnehmung eines virtuellen Raums durch physische Faktoren unterstützt wird. Sieht ein*e User*in etwa Bilder eines Lagerfeuers und simuliert eine Heizlampe gleichzeitig die von dem Feuer ausgehende Hitze, dann handelt es sich dabei um eine Form der augmentierten Virtualität.

Endgeräte für die Darstellung virtueller Welten

Um VR- und AR-Erfahrungen erlebbar zu machen, gibt es bisher eine ganze Reihe von Endgeräten. AR kann dabei bereits über Smartphones, Tablets und Smartglasses erfahrbar gemacht werden. Um digitale Elemente im realen Raum zu verankern, gibt es drei verschiedene Verfahren:

  • Markerbasierte Systeme, bei denen per Kamera ein Bild aufgenommen wird, dessen Kontrastpunkte durch die Software automatisch erkannt und analysiert werden
  • Markerlose Systeme, bei denen man – wie zum Beispiel beim IKEA-Wohnungsplaner – 3D-Objekte aus einer Datenbank zieht und diese in eine digitale Darstellung des Raums einsetzt. Hier wird die Position der digitalen Objekte durch die Anwendung, und nicht durch einen Marker definiert.
  • Ortsbasierte Systeme, bei denen virtuelle Objekte an vorbestimmten Orten sichtbar werden (zum Beispiel durch den Einsatz eines Smartphones mit GPS-Ortung).

Auch mobile VR-Systeme wie VR-Brillen und VR-Headsets sind derweil bei weitem nicht alle gleich. Dabei unterscheidet man im Normalfall zwischen sogenannten 3DOF- und 6DOF-Systemen, wobei „DOF“ für „degrees of freedom“ (dt.: „Grade der Freiheit“) steht:

  • Bei 3DOF-Systemen wie der Oculus „Go“ oder Google Cardboard kann sich der/die User*in umschauen, das heißt nach oben und unten schauen und den Kopf neigen und drehen, sich den digitalen Objekten allerdings nicht nähern, da das System die eigene Position im Raum nicht erfasst.
  • Bei 6DOF-Systemen wie der Oculus Rift oder HTC Vive kommt neben der Rotation der Perspektive auch noch die Bewegung im Raum dazu. Man kann sich virtuellen Objekten also nicht nur annähern, sondern sich auch um sie herum bewegen.

Weitere Unterschiede bestehen zudem bei der Mobilität und der Darstellungsqualität der jeweiligen Geräte. Während verkabelte VR-Headsets zwar meist eine höhere Rechenleistung bieten und komplexere Anwendungen abspielen können, ist die Bewegungsfreiheit bei diesen Geräten eingeschränkt. Bei kabellosen Systemen ist derweil die volle Bewegungsfreiheit garantiert, dafür leidet oftmals die Bildqualität.

VR oder AR in Kulturinstitutionen: Was ergibt Sinn?

In der Entwicklung von VR- und/oder AR-Projekten für Kulturinstitutionen sollte immer die Frage im Vordergrund stehen, welche Inhalte mit der Technik vermittelt werden sollen. Anstatt von der Seite der Technik aus zu denken, sollten Verantwortliche also vielmehr zuerst klären, warum sie VR oder AR überhaupt einsetzen wollen.

In der Entscheidungsfindung für spezielle VR-Brillen oder andere Geräte sollten zudem die Nutzer*innen im Vordergrund stehen. Was sind womöglich die Berührungsängste von Menschen, die mit VR und AR noch keinen Kontakt hatten? Wie führt man Anfänger*innen am besten einfach und schnell an die Technologie heran? Und welche Umstände müssen gegeben sein, damit die AR- und VR-Systeme in ihrer Wirkung voll zur Entfaltung kommen können? Diese Fragen sollten bei der Wahl der Technik mitbedacht werden.

Dabei wird oftmals unterschätzt, wie stark praktische Hürden den erfolgreichen Einsatz von AR- und VR-Systemen einschränken können: Der Tragekomfort, die Kompatibilität mit klassischen Sehkorrekturbrillen und Hygienefragen stehen dabei oft ganz oben auf der Liste der Bedenken.

Nicht zuletzt aufgrund unerwarteter Schwierigkeiten wie dieser, kann es sich für Kulturinstitutionen anbieten, bei VR- und AR-Projekten neben der Hilfe bei der technologischen Entwicklung auch auf zusätzliche Unterstützung in der Betreuung der Systeme zu bauen. Durch die Anwesenheit von geschultem Personal kann vielen Neunutzer*innen die Berührungsangst mit der Technik genommen werden.

Zudem bietet es sich für Kulturinstitutionen an, VR- und AR-Projekte erst einmal in kleinerem Rahmen zu planen und umzusetzen, um langsam Erfahrung mit der Umsetzung zu sammeln und Nutzer*innen– etwa im Museumskontext oder im Theater – an die neue Technik heranzuführen.

Chancen und Risiken von VR und AR in Kultureinrichtungen

Im Kontext der Arbeit von Kultureinrichtungen kann der Einsatz von VR und AR sowohl Chancen bieten als auch Risiken bergen. So haben immersive Technologien etwa im Museumsraum das Potenzial, die Sichtbarkeit von Ausstellungen zu steigern, Besucher*innen neue sinnliche und erkenntnistheoretische Perspektiven zu eröffnen und Sammlungsobjekte mittels digitaler Informationen zu kontextualisieren. Darüber hinaus können Nutzer*innen mittels VR und AR erstmals mit historischen Objekten interagieren und Detailinformationen wahrnehmen, die ohne Technik nicht sichtbar wären – etwa Hintergrunddetails zu Ausstellungsstücken, die digital eingeblendet werden.

Gleichzeitig kann der beliebige und undurchdachte Einsatz von VR und AR jedoch auch den inhaltlichen Faden einer Ausstellung stören und Besucher*innen im Zweifelsfall überfordern. Insbesondere dann, wenn vorher nicht genau geklärt worden ist, warum immersive Technologien zum Einsatz kommen sollen und welchen Zweck sie innerhalb des Programms – über den reinen technologischen Aha-Effekt hinaus – überhaupt erfüllen sollen. Nicht zuletzt deshalb sollte schon frühzeitig geklärt werden, welche Rolle VR- und AR-Stationen als Addition zu den eigentlichen Exponaten einnehmen sollen. Geht es darum, die realen Exponate sichtbarer zu machen? Soll das physische Format eher in den Hintergrund treten? Oder sollen die immersiven Technologien einen ganz eigenen Teil der Ausstellung bilden? All diese Fragen gilt es zu beantworten, um das Potenzial von VR und AR bestmöglich für die eigenen Zwecke auszuschöpfen. Bedacht werden sollte dabei in jedem Fall auch, dass immersive Technologien nicht nur einen positiven Neuheitswert, sondern aufgrund ihrer kurzen Geschichte innerhalb kultureller Institutionen teilweise auch noch einen gewissen Störfaktor mit sich bringen: So können sich Besucher*innen etwa durch das Tragen einer VR-Brille vom Rest des Publikums abgegrenzt fühlen oder gar körperlich auf die VR-Erfahrung reagieren, zum Beispiel mit Schwindelgefühlen.

Chancen:

  • Erhöhte Zugänglichkeit
  • Sichtbarkeit von Sammlungen
  • Motivation durch Technik
  • Forschungsmöglichkeiten
  • Neue sinnliche und erkenntnistheoretische Dimensionen
  • Ermöglichung von Zeitreisen
  • Kontextualisierung von Sammlungsobjekten
  • Interaktion mit historischen/originalen Objekten
  • Emotionale Aktivierung der Besucher
  • Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen analog vs digital
  • Unsichtbares sichtbar machen
  • Detailinformationen zugänglich über verschiedene Filter
  • Möglichkeiten zur Mehrsprachlichkeit
  • Inklusion

Risiken:

  • Beliebigkeit kann ein Exponat (Kunst o.ä.) und Inhalt zerstören
  • Wo und wann ist AR/VR/MX wirklich sinnvoll?
  • tritt das physische Format mehr in den Hintergrund?
  • betreuungsaufwendig, 1 zu 1
  • unbetreuter Dauereinsatz möglich
  • „Gewolltheit“ der Methode?
  • „Überwältigungsverbot“ (Beutelsbacher Konsens)
  • Ablenkung durch Technik / Nutzerführung
  • begrenzte Sichtbarkeitsfläche
  • Gruppenfähigkeit? -> Vereinzelung
  • Blockade durch “künstlichen” Gegensatz zwischen analog – digital / echt – unecht
  • Storytelling + Vermittlung werden zu wenig bedacht angesichts der technischen Möglichkeiten
  • AR mit Gesichtserkennung, Datenschutz?
  • teilweise noch “zu” künstlich

Im Rahmen der Veranstaltung wurden an neun Stationen VR- und AR-Projekte vorgestellt. Dies kam bei den Teilnehmer*innen zu 100% sehr gut an, da so ein praktischer Einblick in die Vielfältigkeit der technischen Möglichkeiten geboten wurde.

Vorgestellte VR / AR Projekte

VR Try Out Stationen:

  • Wadi al Helo. Storytelling-basierte, virtuelle Reise zu Wadi al Helo, Weltkulturerbestätte der Vereinigten Arabischen Emirate. Office for Cultural Heritage Sharjah, Vereinte
    Arabische Emirate | American University Sharjah & Studio 105106 | 2018
  • Hühnergott – digital.dthg & invisible room | 2019
  • Das Städel Museum im 19. Jahrhundert. Mit Wissenschaftler*innen entwickeltes, virtuelles Museum | 2016 Rekonstruktion der historischen Museumssammlung aus dem 19. Jahrhundert. Städel
  • Anne Frank House. Eine Reise in das Haus Anne Franks zum Zeitpunkt ihrer Tagebuchaufzeichnungen. Force Field / Anne Frank Haus | 2016
  • Hold the World. Eine virtuelle Tour hinter die Kulissen und in die Sammlung des Natural History Museums London. Sky UK Ltd. | 2018

AR Try Out Stationen:

  • Interaktive Klangkarte. So klingt Berlin. Anwendung, die den Klang Berlins durch das Konzerthausorchester vertont und in eine interaktive Stadtkarte verwandelt hat. APOLLO (Virtuelles Konzerthaus und HTW) | 2019
  • Das virtuelle Quartett . Weltweit erstes virtuelles Streichquartett. Mithilfe einer Anwendung werden vier Spielkarten interaktiv zum Leben erweckt, die jeweils eine oder mehrere Quartettstimme erklingen lassen. APOLLO (Virtuelles Konzerthaus und HTW) | 2019
  • Animalia Sum. Künstlerische Arbeit, die eine Reise in die Zukunft beschreibt und aus der Perspektive von Tieren die Auswirkungen von Umweltkonflikten und Ressourcenknappheit erlebbar macht – Bianca Kennedy & The Swan Collective. | 2019

Weitere interessante Links

Literatur / Artikel

Blogs und Podcasts

Rückfragen an
Pablo Dornhege: pablo.dornhege@dthg.de
Franziska Ritter: franziska.ritter@dthg.de
Maren Demant: info@invisibleroom.com

Foto: Michael Scherer