digital.DTHG Projektleiter:innen Franziska Ritter und Pablo Dornhege sprechen mit Andreas Gause, Director Marketing & Business Development der Firma Gerriets, über digitale Transformation im Bereich der Theaterindustrie.
Seit 70 Jahren ist das familiengeführte Unternehmen Gerriets Weltmarktführer für Bühnen- und Veranstaltungsbedarf, das Produktportfolio reicht von hauseigenen Fertigungen von Vorhängen, Folien und Kulissen, Dekostoffen, Bühnenvelours und Effektmaterialien bis hin zu Bühnentechnik wie Zug- und Schienensysteme. Der vom digital.DTHG Team in Kooperation mit Gerriets entwickelte Prototyp einer virtuellen Aufbauanleitung – stellvertretend am Beispiel der TRUMPF 95 Vorhangschiene – soll das Arbeiten auf und hinter der Bühne erleichtern.
Das Gespräch fand am 7. Februar 2022 im Assmann Showroom Berlin statt.
Wo steht die Firma Gerriets in Punkto Digitalität?
Grundsätzlich kann bei Gerriets zwischen zwei Bereichen unterschieden werden: Zum Einen im künstlerischen Bereich, den wir mit unseren Produkten unterstützen, um digital motivierte Inszenierungen auf einer Bühne stattfinden zu lassen. Entweder in Form unserer klassischen Projektionsfolien, seien es Auf-, Rück- oder Kombiprojektionen, sowie auch in Form von Softedge-Projektionen, Panorama- oder Kuppelprojektionen. Oder mit Visual Effect-Materialien und echten 3D-Projektionen wie mit der Peppers Ghost-Folie oder 3D-Projektionstülle, die fantastische Hologramm-Projektionen ermöglichen. Zum Anderen wurden betriebsinterne Abläufe und Prozesse stark digitalisiert, wie zum Beispiel das Warenwirtschaftssystem, Kalkulationstools, die Lagerhaltung, sowie die CRM-Programme für die Kundenbetreuungen oder der wirklich gut funktionierende Webshop mit integrierten CMS-Tools. All unsere Produkte sind bereits vollständig in 2D und in 3D als CAD-Zeichnungen digitalisiert und können so bei den Architekt:innen und Planer:innen entsprechend genutzt werden.
Wir haben in unserer Zusammenarbeit prototypisch eine digitale Aufbauanleitung für die TRUMPF 95 Vorhangschiene erarbeitet und mehrfach, u.a. mit dem Technik-Team des Deutschen Theaters Berlin, erprobt. Welche Erkenntnisse ziehst Du aus diesem Prototypen?
Wir sind immer offen für Neues und investieren auch gerne Zeit und Energie in neue Technologien. Als ihr bei unserem ersten Meeting in der Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund euer Vorhaben gezeigt habt, hatte ich erst Schwierigkeiten mir bildhaft vorzustellen, wie eine “augmentierte Aufbauanleitung” aussehen könnte. In den folgenden gemeinsamen Workshops habe ich immer mehr die technische Machbarkeit gesehen vor allem aber auch den potentiellen Nutzen: Einer der Vorteile ist die plastische und sehr realistische Darstellung. Jemand, der mit solch einem Schienensystem noch nie zuvor gearbeitet hat, kann die Brille einfach aufsetzen und die Bauteile werden virtuell auf der Bühne eingeblendet. Jetzt müssen die „leeren Stellen“ nur noch ausgefüllt werden. Das System zeigt an, wo die Bauteile platziert werden müssen. Dadurch ergibt sich auch ein echter Zeitvorteil und ein besseres Verständnis für den Zusammenbau und das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente – ein echter Vorteil gegenüber einer statischen Universal-Bedienungsanleitung auf Papier, die durchgeblättert werden muss.
Durch die gemeinsame Arbeit und das Experimentieren an dem Prototyp habe ich – und auch wir als Firma – tatsächlich verstanden, dass das ein wirklich hilfreiches Werkzeug sein könnte, wenn man es weiterentwickelt. Es muss zwar noch einiges an Arbeit investiert werden, um es von einem Experiment zu einem richtigen Hilfsmittel zu entwickeln, aber der Nutzen ist schon jetzt ablesbar.
Was wäre der nächste Schritt für die Weiterentwicklung des Prototypen?
Das für uns spannendste Thema ist das Thema Gestaltung und Konfiguration. Irgendwo auf der Welt hat ein Kunde die Möglichkeit, sich mit unserer Website zu verbinden, sich auf die Bühne zu stellen, sich in seinem eigenen Bühnenraum ein individuelles System zusammenstellen, live zu visualisieren und zum Beispiel gleich mit dem Intendanten zu besprechen. Das muss ja auch noch gar nicht perfekt und abschließend sein, die individuelle Beratung kommt später noch ins Spiel. Ziel wäre, dass man mit einer Menüführung ein Schienensystem modular, frei konfigurieren kann und die Anwendung aus den Modulen automatisch die richtige Montageanleitung zusammenstellt. Der große Vorteil: Da wir unsere Produkte weltweit verschicken, ist eine augmentierte, dreidimensionale Anleitung viel (be-) greifbarer, viel leichter zu verstehen. Wenn man eine solche gedruckte Anleitung mitschickt, fehlt eben diese Plastizität – es kommt viel schneller zu Missverständnissen. Ein „alter Hase“, der das System schon 60x aufgebaut hat, wird hier nicht gebraucht. Bei dem Heranführen von Nachwuchs oder bei der Schulung von Mitarbeitern kann das aber sehr hilfreich sein.
Die nächste Ausbaustufe wäre ein intelligentes FAQ, dass in der Lage ist, Fragen on-site zu beantworten. Idealerweise vielleicht sogar über eine Spracherkennung – eigentlich so, dass das Programm genutzt werden kann, als würde jemand neben mir stehen und mir das Produkt erklären.
Basierend auf Deinen Erfahrungen mit dem Prototyp: welche Einsatzszenarien kannst Du Dir im Kontext Deines Unternehmens für eine solche Anwendung noch vorstellen?
Hier lassen sich verschiedene Szenarien skizzieren: z.B. für die Projektakquise: Schon vor einer ersten Beratung können sich interessierte Kund:innen ein Bild von den Produkten machen, oder vorab eine virtuelle Vorhangschiene im eigenen Theater positionieren. Auf diese Weise kann der Kunde seine eigenen Anforderungen viel konkreter spezifizieren und mit den verschiedenen Stakeholdern am Haus diskutieren.Bei Fragen kann ein Experte digital hinzugeschaltet werden und auf die Wünsche der Kunden eingehen. Bei einem Beratungsgespräch vor Ort, kann die Simulation dann z.B. durch AR-Brillen unterstützt werden – Augmented Reality auf der Bühne. Wichtig ist uns dabei aber immer, dass das persönliche Gespräch unersetzlich bleibt. Aber es kann durch die Technologie so vorbereitet werden, dass die Zeit optimal genutzt werden kann und man sich im Gespräch auf das Wesentliche fokussieren kann. Hier kann das Tool für die Live-Konfiguration und Anpassung durch den Berater eingesetzt werden. Die zusammengestellten Einzelteile werden durch das System direkt auf Kompatibilität überprüft und die fertige Zusammenstellung kann direkt im Raum visualisiert werden. Die Visualisierung geht hier natürlich wesentlich weiter als ein normales 3D-Rendering am Bildschirm. Dadurch, dass wir die Visualisierung, ob durch eine Brille oder ein Smartphone, in unserem menschlichen Maßstab sehen, wird die Simulation viel verbindlicher. Man kann sie viel klarer beurteilen. Wenn vor Ort alles geklärt ist, kann die Konfiguration dann direkt in die Planungsabteilung weitergegeben werden. Unser Team könnte ein solches Tool auch gut in der Vorbereitung von komplizierten Montagen beim Aufbau vor Ort einsetzen. Technische Mitarbeiter:innen an den Häusern weltweit können sich in die Spezifikationen unserer Produkte einarbeiten und die Bedienung üben – und das auch schon bevor die Systeme geliefert und eingebaut sind. So können Installationen sinnvoll vorbereitet werden, was besonders hilfreich an den weiter entlegenen Orten dieser Welt ist.
Ihr habt den Prototypen neulich auch mit euren Auszubildenden in einer Unterrichts-Session ausprobiert – was waren da eure Erfahrungen?
Ja, so ein Tool könnten wir auch bei der Ausbildung unserer Industriemechaniker:innen einsetzen, sowie bei der Ausbildung und Vorbereitung der Mitarbeiter:innen, die auch auf Montagen gehen sollen. Im Augenblick ist das dort schon “learning by doing”, aber am realen Objekt – das findet dann direkt auf den Baustellen statt und ist natürlich sehr aufwendig. Der Einsatz zu Ausbildungs- oder Schulungszwecken heißt: Man lernt über Augmented Reality – oder hier vielleicht sogar besser in Virtual Reality – ein Produkt kennen: alleine oder in einer Gruppe mit anderen in einem Raum eine “virtuelle” Anlage aufbauen. Und – anders als bei dem Einsatz einer Aufbauhilfe – brauche man dabei noch nicht einmal das reale Objekt. Man kann Planungsschritte üben und überlegen, wie man in einem bestimmten Raum eine sinnvolle Anlage bauen kann. Hier ist die Technologie weit mehr als ein Gimmick mit dem man die Auszubildenden und Studierenden begeistern kann: Genau dieser Effekt des Hands On – das Lernen am Objekt, das den größten Lerneffekt bringt. Und das funktioniert auch, wenn das Objekt virtuell und simuliert ist. Und das nicht nur in unseren eigenen Räumen, sondern auch an ihren (virtuellen) Einsatzorten. Auch bei den Schulungen unserer weltweit arbeitenden Distributoren kann ein solches Werkzeug ausgesprochen sinnvoll eingesetzt werden. So können sich unsere Partner und Töchter mit neuen Produkten vertraut machen, ohne dass sie dafür jedes Mal extra anreisen müssen, was unter dem Aspekt des Umweltschutzes auch ein positive Auswirkungen hat.
Was wünschst Du Dir, wie sich die Theater in Zukunft aufstellen?
Die Theater sind ein Marktfeld, in dem in einigen Bereichen auf der Bühne und in den Werkstätten noch sehr klassisch gearbeitet wird. Kataloge, Produktbeschreibungen, Preislisten und Bedienungsanleitungen werden gerne in gedruckter Form genutzt. So werden digitale Arbeitsweisen nicht unbedingt vorangetrieben. Ich habe den Eindruck, dass der Kreativbereich offener für Veränderungen ist, auch die Eventbranche ist da schneller. Aber das ändert sich langsam, die Akzeptanz für digitale Tools wird größer, Preislisten und Kataloge lieber in digitaler Form angenommen. Und mit dem stetigen Generationswechsel an den Theatern und in den Werkstätten gibt es andere Selbstverständlichkeiten im Bezug auf digitale Anwendungen.
Am Theater funktioniert das an vielen Stellen noch sehr analog. Es gibt aber auch noch nicht allerorts das Verständnis, was durch den Einsatz von digitalen Tools möglich ist. Gut vorstellbar ist aber, dass es in die Richtung gehen wird. Gerade im Bereich Bühnenbild. Das dann gesagt wird: “Wie sieht das aus, wenn ich hier einen Gobelintüll einbaue? Wie verändert sich das Erscheinungsbild, wenn ich stattdessen einen Erbstüll nehme? Und wie wirkt das in der Projektion?” Das geht dann in die Richtung eures anderen Projektbereiches, der Virtuellen Bauprobe. Jetzt sind wir noch weit davon entfernt, aber in anderen Bereichen werden technologische Hilfsmittel bei der Visualisierung und Planung nicht nur gefordert, sondern sind bereits weit verbreitet. Perspektivisch gesehen, wird es solche Anforderungen auch in der Theaterbranche geben. Aber das braucht ein – vielleicht durch die Verbände moderiertes – Zusammenspiel der Hersteller. Hier müssen Politik, Verbände, Hochschulen und Industrie kooperieren – rein privatwirtschaftlich ist eine nachhaltige (Weiter-)Entwicklung kaum abbildbar. Verbände, Hochschulen und die Industrie müssen insgesamt viel enger und vernetzter zusammenarbeiten.
Fotos: Maria Bürger