Vom Theater lernen. Virtual Reality als raum- und zeitbasiertes Medium

Das Theater ist seit jeher Ort für die Schaffung fantastischer Geschichten, Zufluchtsort und Sehnsuchtsraum zugleich. Theaterschaffende ermöglichen als “Weltenbauer” ihrem Publikum den Besuch fremder Orte und Zeitreisen in Zukunft und Vergangenheit.“Dies ist also der Stoff, aus dem die Welt der Bühne aufgebaut ist: ein Gemisch aus Wirklichkeit und Schein.”(1) Im Theater werden ganzräumliche, partizipative und interaktive Erzählformen immer wieder neu er- und gefunden. Im Grunde ist das Theater die analoge Ursprungsform virtueller Welten, eine Art “Proto Virtual Reality”. Die Auseinandersetzung mit den Erzählformen künstlicher Realitäten ist also fast so alt wie das menschliche Bedürfnis, der Alltags-Realität (2) zu entfliehen und dem Drang, neue Welten zu entdecken.

Demzufolge ist Virtual Reality nicht als Modeerscheinung der gegenwärtigen Medienlandschaft zu verstehen, sondern als konsequente Weiterentwicklung der klassischen Medien und Kunstformen zu einem neuen und eigenständigen Medium. Dieses neue Medium verbindet verschiedene Methoden und Erzählformate. Zum Einen sind das gängige zeitbasierte, lineare Dramaturgien wie in filmischen und musikalischen Formaten, zum Anderen sind es raumbezogene Erzählweisen, wie sie in Ausstellungen und Theaterinszenierungen Anwendung finden. Ein weitere wichtige Methode erschließt sich aus Interaktionsmöglichkeiten, wie sie zum Beispiel in der interaktiven Medienkunst oder Computerspielen etabliert sind. “Es ist das Motiv der kontinuierlichen, spielerischen Reorganisation von Informationen durch die Rezipienten. Multiple Perspektiven, non-lineare Erzählformen und ein Betrachter, der keine distanzierte Position zur Welt mehr einnimmt, sind Themen, die mit den interaktiven Medien am überzeugendsten umgesetzt werden können.” (2) Das Medium VR birgt durch das Zusammenwirken der verschiedenen Herangehensweisen aus diesen Genres ein großes Erlebnispotential und bietet Raum für neue Entwicklungen. 

Durch das Aufsetzen der VR-Brille tritt der Betrachter aus der unmittelbaren Umgebung heraus und verlagert seine Präsenz in eine digitale Welt, in eine neue Realität. Dieses vollständige Eintauchen in die virtuelle Erfahrung wird als Immersion bezeichnet. Die Distanz, die bei den meisten Erzählformaten durch den Betrachtungsabstand zwischen Nutzer*innen und Erlebnis entsteht, wird aufgehoben. So betrachtet kann Virtual Reality als immersives, interaktives, raum- und zeitbasiertes Medium definiert werden.

Aus dieser Multimodalität ergeben sich unzählige neue Varianten des Storytellings. So ermöglicht Virtual Reality vielfältige Perspektivwechsel: sei es das Verkörpern verschiedener Charaktere bzw. “Rollen”, das Reisen in andere Zeiten oder zu unerreichbaren Orten und Situationen. Physikalische Gesetze und gesellschaftliche Konventionen können aufgehoben werden: Räume werden nicht nur betreten, sondern sogar durchflogen, Maßstabssprünge werden möglich, die Betrachter*innen werden selbst zu Akteur*innen. 

Zunehmend setzen sich Kreative aus Film, Kunst, Architektur und Theater mit diesen neuen Erzählformen auseinander, nachdem Pionier*innen aus Game-Design und Industrie Maßstäbe gesetzt haben. Jede dieser Disziplinen bringt unterschiedliche Sichtweisen und Haltungen in den Diskurs und die Erkundung der neuen Möglichkeitsräume ein. Ähnlich wie im Museums- und Ausstellungsbereich das Verbundprojekt museum4punkt0 neue Einsatzszenarien für die Vermittlung mit Virtual und Augmented Reality (VR/AR) erkundet, erobern Theaterschaffende die virtuellen Bühnen. Beispielhaft gehen Künstler*innen wie Evelyn Hriberšek, Carly Lave, die Cyberräuber und Studio Makropol voran. VR und AR eröffnen hier neue Bühnenräume oder spielen als Medium in Aufführungen eine Rolle.

Auf institutioneller Ebene etablieren sich inzwischen neue Strukturen und Netzwerke – neben digital.DTHG zum Beispiel die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund und eine Reihe an neugegründeten Arbeitsgruppen und Kompetenzzentren. Spezialisierten Studiengänge an Universitäten reagieren auf das Entstehen dieses neuen Arbeitsfeldes (HTW Berlin, HAW Hamburg, SRH Heidelberg, HS Darmstadt, Brudford College u.a.), hochschulübergreifende Netzwerke wie das XR Academic Network in Berlin ermöglichen den fachlichen Austausch.

 


(1) Alewyn, Richard: Das Theater als Zwischenreich, in: Das große Welttheater: Die Epoche der höfischen Feste, München 1989.
(2) Reimer, Myriam: Eskapismus-Konzept, in: Handbuch Medienpädagogik, Wiesbaden, 2008.
(3) Dinkla, Söke: Pioniere Interaktiver Kunst, Hatje Cantz Verlag 1997, S. 229.

Autor:innen: Franziska Ritter, Pablo Dornhege